(english version)
SESSIONS - Booklet und Infos



Wale Liniger, 2014

Geschichten haben mir immer gefallen. Ich erinnere mich noch sehr gut an meine Grossmutter, eine wunderbare Erzählerin.

Manchmal las sie mir die Geschichten aus einem Buch vor. Nachdem ich eine Erzählung einige Male gehört hatte, kannte ich natürlich die Handlung; das Ende kam schon am Anfang. Und doch wurde es mir beim Zuhören nie langweilig, weil Grossmutter es gut verstand den Figuren verschiedene Stimmen zuzuordnen. Ihre Aussprache hing einfach davon ab, ob sie ihre künstlichen Zähne brauchte, oder nicht. Mir gefielen ihre Gutnachtgeschichten besonders, ganz einfach weil die vorgelesenen Dialoge nun mit lispelnden Geräuschen durchzogen waren. Ihr Gebiss hatte sie in einem Glas Salzwasser auf dem Nachttischchen deponiert. All die „s“ und „r“ Konsonanten zischten kreuz und quer durch bekannte Handlungen und brachten somit wieder etwas Unberechenbares in die Geschichte zurück. Töne sind magisch, ganz einfach weil sie unsere Einbildungskraft herausfordern – und mit dieser Gabe skizzieren wir dann fantastische (im wahren Sinn des Worts) Geschichten.

Anders war es wenn Grossmutter aus ihrem Leben erzählte. Diese Geschichten hörte ich, wenn die Situation danach verlangte. Dies geschah meistens unter Tags, und Grossmutters Zähne produzierten Wörter im herkömmlichen Rahmen. Dagegen waren ihre Geschichten unberechenbar, weil sie in ihrer Erinnerung lebten und nicht auf den nummerierten Buchseiten. Mit der Zeit gefielen mir diese Erzählungen besser. In solchen Momenten war Grossmutter wieder jung, sie nahm mich mit zu Orten und Zeiten die ich nie erleben würde. Zunehmend kam ich in den Bann von Geschichten, die irgendwas mit persönlichen Wahrheiten zu tun hatten. Ich merkte, dass die Erzählerin viel Freiheit hat ihre Geschichten zu gestalten solange der wahre Kern bestehen bleibt.

Grossmutters Geschichten lehrten mich zwei wesentliche Elemente: eine bekannte Erzählung kann wieder belebt werden, wenn wir in Charakterrollen schlüpfen und mit unserer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit zu spielen beginnen; intime Wahrheiten sind persönlich und bleiben dem Moment des Erlebens zugeordnet. Solche Geschichten waren kaum lustig, häufig war das Gegenteil der Fall. Vielleicht blieben sie gerade deswegen in meiner Erinnerung.
Ich verstand den Blues immer als Geschichte. Am Anfang meiner Faszination konzentrierte ich mich hauptsächlich auf die musikalischen Elemente wie Töne und Rhythmen. Alles hörte sich so verständlich an, einfach genug, dass es mich zum Mitspielen einlud. Während vielen Jahren hörte ich mir Schallplatten an und versuchte nachzuahmen, was ich zu verstehen glaubte. Ich sang in einer Fremdsprache und träumte über was hätte sein können an einem weitentfernten, unbekanntem Ort. Ich empfand den Blues als Einladung zum Zwiegespräch mit meinem Selbst.

Nach meinem Umzug nach Mississippi im Jahre 1982 wurde mir bald einmal klar, dass meine Vorstellung des Blues eine Mischung aus reproduzierter Musik und persönlichen Fantasien zum Thema „ich werde missverstanden“ war. Ich hatte es fertig gebracht, einen Ausdruck der Stärke in ein Klagen über romantisiertes Unglück umzuwandeln. Das gelernte Englisch half mir bei meinem Berufsalltag im Blues Archive an der University of Mississippi, doch reichte es bei weitem nicht aus um zu verstehen, was der alte Delta Bluesmusiker James Son Thomas mir sagen wollte. Ich erkannte zwar sein Vokabular in meiner Übersetzung, doch begriff ich oft den emotionalen und kulturellen Wert nicht.

James Son Thomas legte Wert darauf, dass ich den Blues in meiner eigenen Stimme singe. Meine Übersetzung sagte mir, dass ich beim Singen meine Stimme nicht zu verstellen brauche (Timbre & Artikulation). Zunächst beruhigte mich diese Aussage denn ich war mir sicher, dass ich meine natürliche Stimme brauchte. Und doch interpretierte ich immer noch fremde Geschichten. Die Herausforderung meine eigene Stimme zu brauchen war bei weitem schwieriger als Töne und Phrasierungen nachzuahmen.


Der Bluesman wollte, dass ich meine eigenen Erfahrungen zu Wort brachte. Plötzlich wurde der Blues viel intimer, oft sehr aufwühlend und unbequem, wie einst Grossmutters Lebensgeschichten.


Das Lernen einer Fremdsprache hilft uns im Dialog über die Sprachgrenze weg. Ich weiss dann zwar wie ein Wort in seiner übersetzten Form heisst, doch bin ich mir oft nicht klar, welches Gefühl damit angesprochen wird. Für mich bleibt es wichtig wie ein Wort tönt; meine emotionale Reaktion wird durch Gehörtes stark beeinflusst. Bis jetzt hat das Vokabular meiner Muttersprache immer noch am meisten Gewicht. Das wird wohl nicht nur so bleiben, sondern dürfte sich mit meinem zunehmenden Alter noch verstärken. Mein Leben in zwei Kulturen hat mir folgendes gezeigt: allzu oft standen mir die Erinnerungen an meine Zeit in der Schweiz im Weg und verhinderten ein deutliches Jasagen zu Amerika. Im Grunde genommen habe ich die Schweiz kaum verlassen, ich trage sie in mir. Ursprünglich wollte ich das Fremde nur kurz besuchen, aber ich blieb. Rückblickend gesehen bin ich immer noch ein Betrachter, ich wurde kaum zum Mitmacher.

Als ich in Mississippi ankam war mein Kopf voller Buchwissen. Das hatte mich zum Glauben verleitet, dass der Blues eigentlich etwas Abstraktes sei, offen für unzählige Interpretationen und mögliche Lösungen wenn ich nur lange genug darüber nachdachte. Aber die alten schwarzen Bluesspieler insistierten, dass es den Blues gäbe und zwar immer. Seit vielen Jahren schon versuche ich meine stereotypischen Vorstellungen dieser rätselhaften Geschichten und deren Erzähler zu demontieren. Ich weiss nicht wie weit ich damit kommen werde, doch akzeptiere ich was mir die Zeit gibt.

Vielleicht liegt ein Teil meiner Verwirrung am Gebrauch des Worts „Blues“ selber. Wenn ich den Begriff zum Beispiel im Lexikon nachschlage finde ich eine ganze Reihe metaphorischer Anwendungen des „Blau.“ Da reicht die Symbolik von der Unendlichkeit bis zum Dämonischen, von der Transparenz bis zur Trauer, und darüber hinaus. Fast habe ich das Gefühl von Dichtern der deutschen Romantik und ihrem symbolischen Wert der blauen Farbe etwas mitgenommen zu haben. Joseph Freiherr von Eichendorff und Novalis kommen mir jedenfalls ab und zu wieder in den Sinn.

Es gibt ein veraltetes, sprachliches Fragment, das ich von ein paar alten Spielern in Mississippi gehört hatte (es war einst Teil der Umgangssprache, im Lexikon finde ich es nicht): „playing the reals“ (spielen was wirklich ist) sagt mir eigentlich mehr als „playing the blues“. Playing the reals weist auf die Summe meiner Erfahrungen hin, auf meine Wirklichkeiten (the realities). Ich empfinde etwas als wirklich, wenn ich es erlebe, wenn ich betroffen bin. Diese Wirklichkeiten binden mich immer auch an meine Ethik.

Ich bin jedoch nie sicher, ob der Erzähler über sein Leben berichtet oder nicht. Er hofft auf eine sympathische Resonanz im Zuhörer, er verlässt sich dabei auf dessen persönliche Erfahrungen und Vorstellungskraft. Irgendwo muss es eine erkennbare menschliche Qualität in der Moral der Geschichte geben.

Ich habe gemerkt, dass ich meistens zu viel Pathos brauche, wenn ich die Geschichte eines andern interpretiere. Seine Worte haben keinen direkten Bezug zu meinem Erlebten, es bleiben abstrakte Werte. Wenn ich jedoch meine Story singe, bin ich vorsichtiger: ich will weder Mitleid ersingen, noch weinerlich sein, ganz im Gegenteil. Ich will zeigen, dass ich trotz meiner Misere zum Leben stehe, vor allem wenn ich zum grössten Teil selber dran schuld bin.

Dabei mach ich einen Unterschied zwischen den Blues haben und den Blues spielen. Um den Blues zu spielen brauche ich Kraft und Atem. Wenn ich jedoch mitten in der Auseinandersetzung mit dem Selbst bin, so fehlen mir oft die physischen und psychischen Kräfte. Die Umwandung des Erlebten in eine Geschichte braucht Zeit. Und nur die Zeit wird zeigen, ob meine Erfahrung in einer Geschichte weiterlebt.


Ich flüchte mich nicht in die Aussage, dass die Zeit heilt. Es gibt Wunden die nicht heilen, es gibt Löcher die sich nicht füllen. Es sind Marksteine der vergangenen Zeit. Während des Projekts SESSIONS wurde mir bewusst, dass ich zwar über den Atlantik fliegen kann (Move Across the Deep Blue Sea), dass ich es jedoch nicht geschafft habe, meine innere Kluft zu überbrücken: nach über dreissig Jahren im amerikanischen Süden weiss ich immer noch nicht wohin ich gehören will. Die Antwort ist nicht so einfach wie das Hinweisen auf meine Wurzeln, oder wo ich WI-FI Empfang kriege. In der Schweiz fühle ich mich zunehmend im Konflikt zwischen meiner erinnerten Zeit und dem Jetzt. Und im Süden wird mir gesagt, dass ich nie dazugehören werde (man legt Wert auf die Blutlinie). Muss ich denn irgendwo hingehören? Ich glaube kaum, dass es eine allgemein gültige Antwort gibt. Ist nicht gerade solches Suchen, und die antwortende Ratlosigkeit, ein wesentlicher Teil des Blues?

SESSIONS ist eine Sammlung von Geschichten. Während die Musik zwischen Solo und Band abwechselt, so bleiben es Geschichten aus meinem Leben. Die meisten dieser Songs leben seit vielen Jahren als Fragmente in mir. SESSIONS gab mir die Gelegenheit vergangene Momente wieder zu besuchen, Zeiten die ich als wichtig erachte.

In einem Rangier-Bahnhof werden Güterzüge auseinandergenommen, je nach Destination neu zusammengesetzt, und dann weitergeleitet. Eine Session hat eine ähnliche Funktion und führt oft zu einem Kompromiss, zu einem Neuformulieren einer möglichen Zukunft. Dabei ist die wohl intimste Session der stille Dialog mit dem Selbst, ein Augenblick der sich auszeichnen, zugleich aber auch unsichtbar bleiben will. Session ist immer eine Lernzeit. Ich brauche das Wort „Session“ um Momente der menschlichen Interaktion zu beschreiben.


Obwohl ich seit 1982 in den Südstaaten lebe, fühle ich mich immer noch als Schweizer. Von da her gesehen bleibt der Blues in seiner musikalischen Form eine exotische Stimme. Dagegen ist der Blues als persönliche Geschichte keinesfalls mysteriös, ganz im Gegenteil. Er verbindet uns mit Vertrautem. Die Songs „Intersections“ und „Casablanca Tango“ enthalten musikalische Elemente, die seit Jahren teil der schweizerischen Kulturlandschaft sind.

Da ich seit Jahren als Solo Musiker und Geschichten Erzähler unterwegs bin, war das Musizieren mit den Alligators etwas Ungewohntes. Sogar die nötigsten Kompromisse fielen mir nicht leicht. Wir einigten uns auf ein paar Richtlinien. Unsere Biografien weisen darauf hin, dass wir zwar in der schweizerischen Kulturlandschaft aufgewachsen sind, aber exotischen (nicht heimischen) Musikstimmen gefolgt sind. Der Blues war der sprichwörtliche gemeinsame Nenner. SESSIONS ist ein Beleg für unsere Kompromisse und für unsere individuell beibehaltenen Interpretationen. Unser Ziel war nicht ein formatierter Blues Band Sound, sondern wir wollten hören was rauskommt, wenn jeder von den Blues so interpretiert wie er ihn zu fühlen glaubt.

Ich kam zu meinen Geschichten durch mein Leben. Die Erfahrungen gingen den Geschichten (abstrakt) voraus. Das Erlebte gibt den Geschichten fühlbares Gewicht. Dem Abstrakten allein fehlt diese emotionale Bindung, es bleibt ein intellektuelles Konzept. Eine unserer Herausforderung war es, unsere verschiedenen Ausgangspunkte den Geschichten gegenüber zu verstehen und zu akzeptieren, was wir nicht ändern konnten.

Weiter machte mich SESSIONS ganz deutlich auf meine Entfremdung aufmerksam. Meine Kenntnisse zur heutigen Schweiz sind datiert und zum Teil kaum mehr tauglich, während mein Verstehen des amerikanischen Südens wohl immer unvollständig bleiben wird. Viele meiner Erinnerungen sind nicht Helfer, sondern grosse Hindernisse in Bezug auf mein Geburtsland. Und im Süden fehlt mir was ich zum Dazugehören bräuchte. Der Blues weist auf solche Widersprüche hin, doch liegt es an mir zu entscheiden ob ich mich dadurch eingeengt oder befreit fühle. Ich kann dem Selbst nicht ausweichen wenn es um erfühlte Wirklichkeit geht.

Zu guter Letzt will ich die wohl wesentlichste Einsicht zu meinem Leben in den zwei Kulturen skizzieren, ungeachtet der Gefahr missverstanden zu werden. Wenn ich meine Geschichten für ein Schweizerpublikum singe, so frage ich mich oft, ob mein Englisch überhaupt verstanden wird (es ist ja nicht mehr mein Buch-Englisch von einst, die lange Zeit umgeben von Südstaaten Dialekten hat ihre Spuren hinterlassen). Und auf der andern Seite des Atlantiks mache ich mir Gedanken (und zugegebenermassen auch Sorgen) darüber, was die Zuhörer wohl denken. Je nachdem ob die Ohren Schweizern oder Amerikanern gehören, erlebe ich meine Musik sehr unterschiedlich. Ich trage diesen Konflikt in mir seitdem ich mich im Süden niedergelassen habe.